2 Die Jugendstrafvollzugsanstalt

2.1 Jugendstrafvollzug im Wandel

Ist von der Ausgestaltung, den Bedingungen, oder der Wirksamkeit des Jugendstrafvollzugs die Rede, so kann leicht übersehen werden, dass es den Jugendstrafvollzug gar nicht gibt. Selbst wenn Vergleiche zwischen Bundesländern oder Anstalten einmal beiseite gelassen werden und nur der sächsische Jugendstrafvollzug in der Jugendstrafvollzugsanstalt Regis-Breitingen (JSA) betrachtet wird, handelt es sich nicht um eine Konstante: Sowohl die Bedingungen, unter denen Jugendstrafe vollzogen wird, als auch die Inhaftiertenpopulation verändern sich über die Zeit. Neben langsamen gibt es auch größere Veränderungen in kurzer Zeit, welche die Mitarbeitenden vor große Herausforderungen stellen und sicher auch die Erfahrungen der JSG prägen.

Insbesondere drei Entwicklungen hatten in den letzten Jahren massiven Einfluss auf die Bedingungen in der JSA:

  1. Sinkende Anzahlen von Verurteilungen zu Jugendstrafe führten dazu, dass in der JSA zunehmend junge Erwachsene (ohne Jugendstrafe) untergebracht wurden und seit 2018 auch Untersuchungshaft vollzogen wurde.
  2. Höhere Anzahlen von Geflüchteten in der Bevölkerung führten zu mehr Inhaftierten mit eingeschränkten Deutschkenntnissen sowie verschiedener kultureller Prägung.
  3. Die COVID-19-Pandemie erforderte Anpassungen und Beschränkungen; Haftaussetzungen führten zu weniger Zugängen in die JSA.

Hinzu kommen – weniger abrupte – Veränderungen in der Personalstärke und in Merkmalen der Inhaftierten über die Zeit.

Diese Entwicklungen erfordern einerseits unmittelbare Anpassungen der Mitarbeitenden und können sich andererseits mittelbar auf die Erreichung des Vollzugsziels, die JSG auf ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten vorzubereiten, auswirken. In diesem Abschnitt werden einige Veränderungen über die Zeit, die anhand von Daten quantifizierbar sind, veranschaulicht.

Anders als in den anderen Kapiteln werden in diesem Kapitel nicht nur JSG betrachtet, sondern alle in der JSA Inhaftierten, da dies zum Verständnis der Bedingungen in der JSA notwendig ist.

2.2 Jugendstrafe, Freiheitsstrafe und Untersuchungshaft

Haftarten über die Zeit

Abbildung 2.1: Haftarten über die Zeit

Abbildung 2.1 zeigt die Anzahl an Inhaftierten mit verschiedenen Haftarten zu den Monatsersten über die Zeit. Vor 2013 wurde in der JSA fast nur Jugendstrafe vollzogen. Bis Anfang 2017 ist die Anzahl der JSG gesunken und die Anzahl der Inhaftierten mit Freiheitsstrafe gestiegen. Von circa Mitte 2016 bis Ende 2018 waren etwa gleich viele JSG wie Inhaftierte mit Freiheitsstrafe (einschließlich Ersatzfreiheitsstrafe) in der JSA untergebracht. Seitdem steigt die Anzahl der JSG leicht und die Anzahl der Inhaftierten mit Freiheitsstrafe sinkt.

Seit Anfang 2018 wird in der JSA auch Untersuchungshaft an Jugendlichen und Heranwachsenden vollzogen. Dadurch ist die Gesamtbelegung deutlich gestiegen. 2020 stellten JSG wieder über die Hälfte aller Inhaftierten dar.

Mit den Belegungszahlen verändern sich Art und Menge der in der JSA zu leistenden Arbeit. Neben der Belegung zu Stichtagen ist als Indikator für die zu leistende Arbeit die Anzahl der Zugänge maßgeblich: Wenn die Inhaftierten aufgrund kurzer Haftdauern (z. B. Untersuchungshaft oder Ersatzfreiheitsstrafe) stark fluktuieren, ist dies nicht notwendig an der Belegung zu einem Zeitpunkt, wohl aber an den Zugängen in einem Zeitraum erkennbar. Eine höhere Fluktuation der Inhaftierten bedeutet mehr Betreuungsarbeit. Abbildung 2.2 stellt die Anzahl der Zugänge mit verschiedenen Haftarten über die Zeit dar.

Haftarten der Zugänge in die JSA über die Zeit (N = 4869)

Abbildung 2.2: Haftarten der Zugänge in die JSA über die Zeit (N = 4869)

In den Jahren 2010 bis 2024 sind insgesamt 5.316 Inhaftierte in die JSA zugegangen, davon 4.869 mit Jugend- oder (Ersatz-)Freiheitsstrafe oder Untersuchungshaft. (Ausgeschlossen werden hier 354 Inhaftierte mit einer sonstigen Haftart (z. B. Sicherungshaft nach § 453c StPO) und 93 Inhaftierte, für die keine Haftart dokumentiert ist.)

Im Vergleich zu Abbildng 2.1 zeigt sich, dass (Ersatz-)Freiheitsstrafen und Untersuchungshaft an den Zugängen einen deutlich höheren Anteil ausmachen als an der Belegung zum Stichtag. Beispielsweise befanden sich in den Jahren 2019 und 2020 laut Belegung ungefähr halb so viele Inhaftierte in Untersuchungshaft wie in Jugendstrafe; bei den Zugängen sind es hingegen mehr Inhaftierte mit Untersuchungshaft als mit Jugendstrafe.

Um zu verstehen, wer in der JSA inhaftiert wird und welche Arbeit dort geleistet wird, lohnt es also, sowohl Belegungszahlen als auch die Anzahl der Zugänge zu betrachten.

Dauer der Inhaftierung in der JSA (N = 4011)

Abbildung 2.3: Dauer der Inhaftierung in der JSA (N = 4011)

Abbildung 2.3 zeigt die Verteilung der Dauer der Unterbringung in der JSA (bis maximal 2 Jahre) für Inhaftierte, die in den Jahren 2014 bis 2024 die JSA verlassen haben. Die sehr kurzen Aufenthalte in der JSA sind ab 2017 – durch kurze (Ersatz-)Freiheitsstrafen und Untersuchungshaft – stark angestiegen.

2.3 Staatsangehörigkeit

Staatsangehörigkeit am Stichtag über die Zeit (N = 5316)

Abbildung 2.4: Staatsangehörigkeit am Stichtag über die Zeit (N = 5316)

Seit 2012 stieg die Anzahl der Inhaftierten ohne deutsche Staatsangehörigkeit auf niedrigem Niveau an. Mit der Zuständigkeit für Untersuchungshaft wuchs 2018 die Anzahl auf mehr als das Doppelte des Vorjahres.

Mit dieser Veränderung sind in der JSA sprachliche Verständigungsschwierigkeiten häufiger und kulturell geprägtes Verhalten diverser geworden. Die veränderte Zusammensetzung der Gruppe der Inhaftierten erfordert von Bediensteten eine höhere Sensibilität für sprachliche und kulturelle Verschiedenheit. Auch die von den Bediensteten zu leistenden organisatorischen Aufgaben nehmen durch Verständigungsschwierigkeiten zu, etwa das Einbeziehen von Dolmetschern, die Überwachung von Videotelefonie oder das Begleiten der Inhaftierten zu Ämtern.

2.4 COVID-19-Pandemie

Maßnahmen zum Schutz vor Infektionen mit dem Erreger SARS-CoV-2 führten ab März 2020 zu großen Veränderungen bei den Strafantritten und in der Organisation des Jugendstrafvollzugs:1

  • Strafantritte: Ladungen zum Antritt von Jugendstrafen bis zu drei Jahren wurden unter bestimmten Bedingungen ausgesetzt (März bis Juni 2020, erneut von November 2020 bis April 2021), ebenso die Zuständigkeit der JSA für junge nach Erwachsenenstrafrecht Verurteilte.
  • Besuche wurden teilweise nur noch für Angehörige und Rechtsanwält:innen zugelassen, Regelbesuche wurden kurzzeitig ganz ausgesetzt und später mit nur einer oder zwei erwachsenen Besuchenden und einem Kind zugelassen. Kontakt zu Angehörigen per Videotelefonie wurde angeboten.
  • Beratung und Behandlung durch externe Träger wurde von März bis Mai/Juni 2020 eingestellt oder fand nur sehr eingeschränkt statt. Auch durch Vollzugspersonal durchgeführte, häuserübergreifende Behandlungsgruppen wurden zeitweise ausgesetzt. Ab März 2021 wurden sie wegen Infektionen für einige Wochen fast vollständig ausgesetzt.
  • Schulkurse wurden ab Dezember 2020 im Wechselunterricht durchgeführt. Ab März 2021 wurden sie wegen Infektionen für einige Wochen ausgesetzt.
  • Arbeit und Ausbildungsmaßnahmen wurden um den Jahreswechsel 2020/2021 kurzzeitig weitgehend ausgesetzt, um Kontakte zwischen Inhaftierten aus verschiedenen Hafthäusern zu reduzieren. Auch sie wurden ab März 2021 für einige Wochen ausgesetzt.
  • Freizeitangebote wurden als Kompensation für die Einschränkung der Besuche zeitweise erweitert. Im November 2020 wurden stationsübergreifende Angebote ausgesetzt.

2.5 Bedienstete

Die folgenden Diagramme zeigen für die Berufsgruppen Allgemeiner Vollzugsdienst (AVD), Sozialdienst, Psychologischer Dienst und Pädagogischer Dienst jeweils (a) die Anzahl der Mitarbeitenden gemessen in Vollzeitäquivalenten (VZÄ) zum Stichtag 31.03. eines jeden Jahres beziehungsweise (b) die Anzahl der VZÄ pro 100 Inhaftierte nach Bestand und im Vergleich pro 100 Inhaftierte nach Zugängen. Dabei ist zu beachten, dass die tatsächliche Personalausstattung durch unbesetzte Stellen und Krankheit geringer sein kann als die hier betrachteten „potentiell verfügbaren“ VZÄ.

2.5.1 Allgemeiner Vollzugsdienst

Bedienstete des Allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD) gehen verschiedenen Aufgaben nach. Neben der Betreuung und Kontrolle der Inhaftierten im Hafthaus arbeiten sie beispielsweise auch in Ausbildungs- und Arbeitsstellen, am Eingang der JSA oder in der Sicherheitszentrale. Das heißt: Die im Folgenden angegebene Anzahl von Bediensteten pro 100 Inhaftierten entspricht nicht dem Betreuungsschlüssel im Hafthaus; letzterer ist geringer.

Anzahl der VZÄ im AVD

Abbildung 2.5: Anzahl der VZÄ im AVD

Anzahl der VZÄ im AVD pro 100 Inhaftierte

Abbildung 2.6: Anzahl der VZÄ im AVD pro 100 Inhaftierte

In den Jahren 2016 bis 2018 lag die Anzahl der VZÄ im AVD bei circa 80 % im Vergleich zu den Jahren davor – d. h. jede fünfte Stelle ist weggefallen. 2019 und 2021 gab es wieder etwas mehr VZÄ (Abbildung 2.5).

Die Anzahl der VZÄ im AVD pro 100 Inhaftierte zum Stichtag (Belegung) variierte in den letzten Jahren stark – von 78,5 im Jahr 2014 zu 48,3 im Jahr 2018 (Abbildung 2.6). Noch deutlicher sank die Personalausstattung bezogen auf die Zugänge im Jahr: Im Mittel der Jahre 2018 und 2019 ist sie ungefähr halb so groß wie im Mittel der Jahre 2012 bis 2015. Die deutlich höhere Anzahl von VZÄ im AVD pro 100 Inhaftierte seit 2021 dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass (zuerst aufgrund der COVID-19-Pandemie) die Zahl der Haftantritte deutlich sank.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Arbeitsbelastung im AVD zwischenzeitlich deutlich gestiegen war. Dies dürfte Auswirkungen darauf gehabt haben, wie viel Unterstützung die JSG erhalten konnten: Bedienstete hatten weniger Möglichkeiten, Freizeit- oder Behandlungsmaßnahmen anzubieten oder als Bezugspersonen für einzelne JSG präsent zu sein.

2.5.2 Sozialdienst

Anzahl der VZÄ im Sozialdienst

Abbildung 2.7: Anzahl der VZÄ im Sozialdienst

Anzahl der VZÄ im Sozialdienst pro 100 Inhaftierte

Abbildung 2.8: Anzahl der VZÄ im Sozialdienst pro 100 Inhaftierte

Die Anzahl der VZÄ im Sozialdienst der JSA ist seit 2018 etwas höher als zuvor (Abbildung 2.7). Bezogen auf die Belegungszahlen ist die Personalausstattung im Sozialdienst von 2011 bis 2014 deutlich gestiegen und sank seither leicht (Abbildung 2.8). Ab 2015 ist die Anzahl der Mitarbeitenden im Sozialdienst pro 100 Zugänge stark gesunken. Der zuletzt ansteigende Verlauf der Linien dürfte auch hier ein Effekt der COVID-19-Pandemie beziehungsweise der auch nach dieser geringeren Haftantritte sein.

Auch für den Sozialdienst ist die Arbeitsbelastung durch den starken Anstieg der Zugänge in die JSA in den Jahren 2015 bis 2019 gestiegen.

2.5.3 Psychologischer Dienst

Anzahl der VZÄ im Psychologischen Dienst

Abbildung 2.9: Anzahl der VZÄ im Psychologischen Dienst

Anzahl der VZÄ im Psychologischen Dienst pro 100 Inhaftierte

Abbildung 2.10: Anzahl der VZÄ im Psychologischen Dienst pro 100 Inhaftierte

Die Personalausstattung im Psychologischen Dienst wurde zwischen den Stichtagen 2011 und 2012 deutlich verbessert (Abbildung 2.9). Danach sank die Anzahl der VZÄ bis 2016 kontinuierlich bis unter das Ausgangsniveau. Seitdem ist die Anzahl der VZÄ in etwa konstant.

Die Reduzierung der VZÄ im Psychologischen Dienst ist bezogen auf die Belegung besonders deutlich: Während in den Jahren 2012 bis 2015 rechnerisch im Mittel über 3 VZÄ pro 100 Inhaftierte existierten, sind es in den Jahren 2018 bis 2020 im Mittel circa 2 VZÄ, also circa ein Drittel weniger (Abbildung 2.10). Durch den Anstieg der Zugänge und die Vollstreckung von Untersuchungshaft dürfte der Bedarf an Krisenintervention gestiegen sein. Kriminaltherapeutische Interventionen beschränken sich hingegen entsprechend der in Sachsen geltenden Mindeststandards für den Psychologischen Dienst in der Regel auf bestimmte Inhaftierte mit bestimmten Delikten und längeren Haftstrafen. Parallel zur etwas besseren Ausstattung 2024 wurden eine Suchtherapie-Station sowie eine Sozialtherapeutische Abteilung mit besonderem personellen Bedarf (wieder-)eröffnet.

Bezogen auf die Anzahl der Zugänge war die Personalausstattung im Psychologischen Dienst seit 2016 vergleichsweise stabil, aber deutlich geringer als in den Jahren 2012 bis 2015; im Jahr 2024 ist der Schlüssel deutlich in Richtung des früheren Niveaus gestiegen.

2.5.4 Pädagogischer Dienst

Anzahl der VZÄ im Pädagogischen Dienst

Abbildung 2.11: Anzahl der VZÄ im Pädagogischen Dienst

Anzahl der VZÄ im Pädagogischen Dienst pro 100 Inhaftierte

Abbildung 2.12: Anzahl der VZÄ im Pädagogischen Dienst pro 100 Inhaftierte

Im Pädagogischen Dienst ist die Anzahl der VZÄ von 2010 bis 2013 gestiegen, anschließend gesunken und 2020 wieder gestiegen (Abbildung 2.11). 2015 waren die Personalausstattung punktuell von 8 VZÄ zuvor und danach auf 5 VZÄ „eingebrochen“.

Der Bezug zur Belegung oder den Zugängen (Abbildung 2.12) ist für den Pädagogischen Dienst weniger relevant, da sich die Arbeit im Wesentlichen auf Schüler (d. h. eine konstante Gruppen von Inhaftierten mit Haftstrafen, die in der Regel ein Schuljahr umfassen) konzentriert. Allerdings bedeuten Schwankungen in Belegung und Zugängen gegebenenfalls Schwierigkeiten, Schüler für die Schulklassen zu finden.

Zusammenfassung

  • Gesellschaftliche Veränderungen wirkten sich in den letzten Jahren auf die Bedingungen des sächsischen Jugendstrafvollzugs aus. Demographische Veränderungen (niedrigere Bevölkerungszahlen in der relevanten Altersgruppe) führten zu weniger Inhaftierungen von JSG, weswegen die JSA auch für andere Inhaftiertengruppen zuständig wurde. Kurze Haftzeiten wurden häufiger; damit stieg die Anzahl der Zu- und Abgänge in die beziehungsweise aus der JSA.
  • Durch mehr geflüchtete Menschen in Sachsen ist der Anteil der Inhaftierten ohne deutsche Staatsangehörigkeit gestiegen.
  • Die COVID-19-Pandemie führte zu Aussetzungen von Strafantritten. Besuche und Maßahmen wurden zeitweise eingeschränkt.
  • Durch Personalabbau in manchen Dienstgruppen bei gleichzeitiger Erweiterung der Zuständigkeiten der JSA standen und stehen teilweise weniger Bedienstete pro Inhaftiertem zur Verfügung. Dies kann sich negativ auf Behandlungs- und damit Resozialisierungsbemühungen auswirken.

  1. Wir danken Herrn Naumann aus der JSA Regis-Breitingen für die regelmäßige Unterrichtung über solche Veränderungen.↩︎